Von Jörg Stock
Der 28. Februar 1999 ist ein ungewöhnlich milder Wintersonntag. Er fühlt
sich fast schon wie Frühling an. Den 14-jährigen Karsdorfer Christian
Walter und seine Freunde zieht es zu dieser geheimnisvollen Blechröhre,
die im Wald beim Nachbardorf Oelsa eingegraben liegt. Mit den Fahrrädern
holpern sie durch die Dippser Heide bis zur eisernen Einstiegsluke und
kriechen hinab in die Düsternis. Sie haben keine Ahnung, dass sie ein
Grab betreten.
Den erdgedeckten Unterstand der Sowjetarmee gibt es schon lange in
der Dippser Heide. Der Wald war Spielwiese der 1. Gardepanzerarmee.
Manche sagen, der Bunker sei 1968 erbaut worden, als die Sowjets zur
Niederschlagung des Prager Frühlings in die Tschechoslowakei rollten.
Genau weiß das keiner. Mindestens zehn solche Wellblechzylinder steckten
1990 laut Forst im Heideboden. Zwar begann man gleich nach dem
Truppenabzug, diese Bauten zu schleifen. Doch das kostete Zeit und Geld.
Der Bunker bei Oelsa blieb vorläufig stehen.
Als Christian Walter und seine Freunde in die Röhre vordringen,
nehmen sie einen eigentümlichen Geruch war. Er scheint von der großen
Plastiktüte eines Drogeriemarktes zu kommen, der am Boden liegt. Die
Jungs halten das Paket für Müll. Da sie den Bunker nun als ihr Reich in
Besitz nehmen wollen, beginnen sie mit der Entrümpelung. Sie wollen die
Tüte hinausschaffen. Die ist unerwartet schwer, weil offenbar mit
Kieselsteinen gefüllt. Als Christian und zwei weitere Jungs den Sack
packen, reißt er auf, und etwas rollt hervor. Es sieht aus wie ein
Kinderkopf.
Anstatt zurückzuschrecken, ziehen die Freunde ihren grausigen Fund
vollends ans Licht. „Man hat das gar nicht realisiert, dass das ein
totes Kind ist“, sagt Christian Walter heute. „Wir waren wohl alle in
einer Art Schockzustand.“ Draußen wird es Gewissheit: Ein Kinderkörper.
Die Jungs – alle noch ohne Handy – rasen ins Dorf zurück, zur
Telefonzelle, und rufen die Polizei.
Säuglingsmord ist ein Verbrechen, das Mitte, Ende der 1990er Jahre
häufiger vorkommt. Das ist zumindest der Eindruck von Hauptkommissar
Ralf Hubrich. Er kann das nicht mit Zahlen beweisen. „Man hörte es aber
vermehrt, auch von anderen Dienststellen“, sagt er. Als er am bewussten
Sonntag in der Dippser Heide am Bunkerdeckel steht, liegt sein letzter
derartiger Fall schon viele Jahre zurück. Damals, noch zu DDR-Zeiten,
wurde ein Säugling tot in einer Jauchegrube am Konsum von Beerwalde
gefunden. Die Sache war schnell aufgeklärt. Eine Frau aus dem
Konsum-Umfeld, die erst dick und dann wieder dünn geworden war, wurde
verhaftet.
Nun, am Bunker, ist alles komplizierter. Die Babyleiche liegt
offenbar schon Monate hier. Währenddessen dürften viele Neugierige die
Röhre durchstöbert haben, ähnlich arglos, wie die Jungs. Es liegt viel
Zeug herum. Zigarettenkippen und anderes mehr. Stammt es von dem, der
die Leiche herbrachte? Kaum, denkt Ralf Hubrich. Der wird seine Tat
ausgeführt haben und verduftet sein. Trotzdem wird alles gesichert. Es
sieht nach viel Arbeit aus. Bald übernimmt die Mordkommission am
Dresdner Polizeipräsidium die Angelegenheit.
Die Gerichtsmedizin stellt fest: Das tote Baby war ein Mädchen,
entbunden wahrscheinlich im Sommer oder Herbst 1998. Mord wird zwar
vermutet, doch gibt es zunächst keine Hinweise darauf. So wendet sich
die Polizei an die Bevölkerung: „Wer kann Hinweise zu Frauen geben, die
im Jahre 1998 schwanger waren, aber kein Kind haben?“ Der Suchaufruf
baut zugleich der Kindsmutter eine goldene Brücke. Sie werde in jedem
Fall Gelegenheit erhalten, sich zu erklären, sollte sie sich melden oder
ermittelt werden, heißt es darin. Gefahndet wird überdies im
MDR-Fernsehen, bei „Kripo live“. In dem Film zur Sendung spielen
Christian Walter und seine Freunde aus Karsdorf ihren eigenen
Leichenfund nach. Für die Jungs ist das ein Erlebnis, aber auch eine
Verpflichtung. Man habe natürlich helfen wollen, sagt Christian.
Tatsächlich gehen zahlreiche Tipps zu schwanger gewesenen Frauen
ein. Sie konzentrieren sich zunächst auf die Stadt Rabenau und das
Umfeld, in dem Karsdorf und Oelsa liegen. Um herauszukriegen, ob die
Kindsmutter unter den Genannten ist, nimmt die Polizei Speichelproben
und vergleicht das Material, den genetischen Fingerabdruck, mit dem des
toten Babys. Doch die Gentests laufen ins Leere. Bis Mitte Mai finden
die Ermittler keine Spur, die zur Babymutter führt. Je mehr Zeit ins
Land geht, umso weniger Hinweise trudeln ein. Die Chancen, den Tod des
Säuglings aufzuklären, schwinden.
Da kommt eines Tages der entscheidende Bürgerhinweis. Er führt die
Polizei nach Freital, zu einer 28-jährigen Frau. Sie ist ledig, scheint
geistig zurückgeblieben, lebt mit ihrem 63-jährigen Vater zusammen.
Freiwillig gibt sie eine Speichelprobe ab. Und tatsächlich: Der
genetische Fingerabdruck passt. Die leibliche Mutter des Bunkerbabys von
Oelsa ist gefunden.
Verdacht auf Inzest gegen den Vater
In der folgenden Vernehmung gibt die Frau an, dass sie das Baby im
August 1998 gemeinsam mit ihrem Vater zur Welt gebracht hat. Der Vater
half bei der Entbindung. Die Polizei nimmt an, dass der 63-Jährige das
Baby „in einer spontanen Handlung“ erstickte. Die Tochter ließ er
offenbar in dem Glauben, er habe das Kind fortgebracht, damit es an
einem anderen Ort aufwachse. Damit gilt die Frau für die
Staatsanwaltschaft als unschuldig.
Ihr Vater hingegen kommt in Untersuchungshaft, wo er nicht nur der
Kindstötung verdächtigt wird, sondern auch des Inzests – als möglicher
Erzeuger des kleinen Mädchens. Die ganze Wahrheit kommt nie ans Licht.
In der U-Haft verstirbt der Verdächtige. Er soll krank gewesen sein,
heißt es. Das Verfahren hat sich damit erledigt.
Der Bunker in der Heide verschwindet bald darauf. Man lässt einen
Bagger anrollen. Der quetscht die Blechröhre zusammen und füllt das Loch
mit Erde. Steffen Seyfert, der Revierförster, ist zufrieden. Heute
wachsen an dem Fleck wieder Bäume, sagt er. „So wie es sein soll, im
Wald.“